Filesharing: Zur tatsächlichen Vermutung und zur Höhe des Schadensersatzes

Veröffentlicht am in Urheberrecht

Der Bundesgerichtshof hat am vergangenen Donnertag insgesamt drei Revisionen im Bereich Filesharing zurückgewiesen (BGH, Urteile vom 11.06.2015). Die Musikindustrie feiert die Urteile als Sieg. Anwälte abgemahnter Anschlussinhaber zeigen sich enttäuscht.

Ein Terminsbericht

Der Vorsitze des ersten Senats Prof. Wolfgang Büscher (62) leitet zunächst sachlich in den Streitstand der drei Verfahren ein. Unter anderem beschäftigte das Gericht die Frage, ob eine Eintragung in der Datenbank der Phononet Datenbank ausreichen würde, um die sogenannte Aktivlegitimation als Tonträgerhersteller nachzuweisen. Der Datenbank käme zwar eine gewisse Indizwirkung zu, die aber lediglich eine tatrichterliche Frage sei. Eine weitere Darlegung der Aktivlegitimation könnte unverhältnismäßig sein, erklärte Prof. Büscher.

Dagegen wurde später von den Revisionsklägern vorgebracht, der Künstler Bushido habe auch einmal fälschlicherweise als Tonträgerhersteller in der Datenbank der Phononet GmbH gestanden, obwohl dies bei dem Lied „Janine“ zweifelhaft war. In Hinblick auf die korrekte Ermittlung der IP-Adressen seien zwar die Tonträgerhersteller als Kläger beweisbelastet, erklärte Büscher, allerdings haben die Kläger durch die Vernehmung von Sachverständigen in den Vorverfahren dargelegt, dass die Ermittlungen der IP-Adressen durch die proMedia GmbH zuverlässig und fehlerfrei geschehen würde.

Die Revisionskläger hätten vorgebracht, so erklärte Richter Büscher, dass möglicherweise Bedenken gegen die Festsetzung der fiktiven Lizenzgebühren auf 200,- EUR bestehen. Als Grundlage wird ein Wert von 0,50 EUR pro Abruf der Musikdatei angenommen, der mit einem Wert von 400 möglichen oder erwarteten Downloads multipliziert wird. Möglicherweise wäre diese Berechnung unter Berücksichtigung der Bandbreiten einzelner Internetanschlüsse unverhältnismäßig. Auch erklärte das Gericht, dass man sich mit der Frage beschäftigen müsste, ob eine 1,3 Geschäftsgebühr für die Aussprache einer Abmahnung angemessen sei, oder ob hier nicht vielleicht der Gedanke des § 12 Abs. 4 UWG analog zu tragen kommen könnte. Er zweifelte aber bereits an den Voraussetzungen der Analogie, die daraus bestehen, dass eine vergleichbare Interessenlage vorliegt und eine vom Gesetzgeber nicht geplante Regelungslücke durch Rechtsfortbildung gefüllt werden muss.

In dem Verfahren I ZR 7/14 hatte sich das Landgericht Köln aufgrund des polizeilichen Geständnisses der Tochter von ihrer Täterschaft überzeugt. Es stand daher die Frage im Raum, ob dieses, wenn auch nur indirekt, durch Verlesung der Vernehmungsprotokolle in das zivilgerichtliche Verfahren eingebracht werden dürfte. Insoweit dürfte jedoch aus der Sicht des Gerichts nichts gegen eine solche Einbringung sprechen. Die Revisionskläger brachten später vor, es hätte hier einer qualifizierten Belehrung bedurft, in der bei der Polizei darauf hingewiesen würde, dass die Aussagen auch in einem etwaigen Zivilprozess verwertet werden könnten. Die Mutter hätte in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht als Partei vernommen werden müssen, sagte der Revisionsklägervertreter, da es hinreichende Anhaltspunkte für eine ordnungsgemäße Belehrung gegeben hätte.

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Der Saal 123 beim Bundesgerichtshof.
Foto: Ehssan Khazaeli

„Die Beklagten stehen mit dem Rücken zur Wand und können nicht in das System der Kläger blicken.“

In Hinblick auf das Verfahren I ZR 75/14 stellte sich die Frage, ob der Vortrag des Familienvaters, er sei zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht in seiner Wohnung, sondern mit seiner gesamten Familie auf Mallorca gewesen, ausreichen würde, um den Beweis des ersten Anscheins zu entkräften. Rechtsanwalt Herbert Geisler brachte vor, dass bereits die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises einer genaueren Prüfung bedürfen. Ein Anscheinsbeweis sei auf konkrete Tatsachen zu stützen, fraglich sei jedoch, auf welche konkreten Tatsachen ein solcher Beweis hier gestützt werden könnte. Ein typischer Geschehensablauf sei Voraussetzung für einen solchen Anscheinsbeweis. Geisler zog Parallelen zu Blitzer-Fällen im Straßenverkehr.

Auch die Anforderungen an die sekundäre Darlegungslast wurden von Geisler angegriffen, die von einer Beweislastumkehr abzugrenzen sei. Insoweit verwies er auf die einschlägige Kommentarliteratur, so etwa dass Zöller von einem „vereinfachten Gegenbeweis“ sprechen würde. Die sekundäre Darlegungslast sei die Antwort auf die Tatsache, dass sich der Vorgang des Filesharings in einer Sphäre abspielen würde, in die Tonträgerhersteller keinen Einblick haben. Das Oberlandesgericht Köln, so meint er, habe überzogene Anforderungen an die Entkräftung des Anscheinsbeweises gestellt. Es habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass einem einwöchigen Mallorca-Urlaub, der mit dem Auto angetreten wird, kein Erholungswert zukommen könne.

Auch die Anforderungen an die Ermittlung der IP-Adresse stellte Geisler in Zweifel. In den verhandelten Fällen wurden die Datei-Hashwerte lediglich mit einer IP-Adresse verknüpft. Eine Hörprobe hatte nicht stattgefunden. Geisler warf die Frage auf, ob nicht auch Hörproben von den Dateien notwendig seien.

BGH: „1,3 Geschäftsgebühr auch bei massenhafter Abmahnung gerechtfertigt“

Auch die Ansetzung einer 1,3 Geschäftsgebühr sei unangemessen, wenn die Abmahnungen lediglich „durch einen Automaten“ laufen würden. Rechtsanwalt Christian Rohnke, der die Musikindustrie vor dem Bundesgerichtshof vertrat, erklärte, dass das Filesharing für die Tonträgerhersteller eine „enorme Belastung“ darstellen würde. Nur durch einen „riesigen Aufwand“ könne die Musikindustrie dem Herr werden. In Bezug auf den Katalog der Phononet GmbH sagte er, dass es sich dabei nicht um irgendeinen Katalog handeln würden, in den jeder reinschreiben könne, was er will. Dem Katalog käme für kaufmännische Entscheidungen in der Branche eine hohe Bedeutung zu. Er sei aus diesem Grund branchenweit anerkannt. Die Indizwirkung, die diesem Katalog zukäme, sei bedeutender als die des § 10 UrhG.

Für einen Anscheinsbeweis würde es genügen, wenn ermittelt wird, dass über eine bestimmte IP-Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt eine mit einem Hash-Wert markierte Datei angeboten wird. Dieser Anscheinsbewies könne durch Tatsachen entkräftet werden, die im Zweifelsfall bewiesen werden müssen.

„Heiliger-Geist-Theorie“ bei Tauschbörsen

Das Vorbringen, alle Familienangehörigen hätten sich zum fraglichen Zeitpunkt im Urlaub befunden, niemand hätte Zugriff auf den Rechner und damit den Internetanschluss gehabt, wurde von der Musikindustrie sarkastisch als „Heiliger-Geist-Theorie“ bezeichnet, da nur eine „sakrale Person“ als Täter der Rechtsverletzung in Betracht käme. Dies wurde durch Verlesung einiger Aussagen unterstrichen, in denen beispielsweise der Sohn des beklagten Anschlussinhabers äußerte „Ich habe ihn [Anm. d. Red.: den Computer] nie genutzt“.

Zu der Höhe des Lizenzschadens führte Rohnke aus, dass eine Ex-ante-Sicht maßgeblich sei. Es handele sich bei der Bezifferung des Schadensersatzes, der nach den Grundsätzen der fiktiven Lizenzanalogie bestimmt wird, um eine Prognose-Entscheidung. Ob und wie oft die angebotene Datei tatsächlich hochgeladen wird, sei nicht maßgeblich. Auch würde nicht mit jedem einzelnen Filesharer verhandelt werden, sondern das Gericht müsse zu einer generalisierenden Betrachtung für alle Filesharer gelangen. Die Kosten einer solchen Upload-Lizenz müssten sich dann an einer Mindestlizenzgebühr und einer Mindestlaufzeit orientieren, sagte Rohnke.

Der Vorsitzende hakte an dieser Stelle ein und erklärte zunächst, dass der Fall Bushido nicht vergleichbar sei. Der Senat hätte denselben Fall vor einigen Monaten selbst entschieden und die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. In der Sache sei es nicht darum gegangen, ob die Datenbank fehlerhaft sei, sondern ob Teile aus einem bestimmten Werk von einer französischen Gruppe entnommen wurde. Diese Frage ist bisher noch nicht abschließend geklärt.

Bezogen auf das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Köln, bei dem ein Familienvater erklärte, er sei mit seiner Familie im Urlaub gewesen, sagte Rohnke, die Justiz mache sich zum Hampelmann. Der Beklagte in dem Verfahren habe, nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts, seine Familie zur Falschaussage angestiftet. Er habe seine Chance gehabt und diese nunmehr verspielt.

Urteilsverkündung: Bundesgerichtshof weist alle Revisionen zurück

Das Gericht wies nach drei Stunden um 15 Uhr alle Revisionen zurück. Der Vorsitzende führte aus, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass die Eintragungen in der Phononet Datenbank fehlerhaft seien. Der Datenbank käme wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Branche eine starke Indizwirkung zu, die nur durch das Vorbringen von konkreten, greifbaren Tatsachen wiederlegt werden kann.

Auch für eine fehlerhafte IP-Adressermittlung seien keinerlei durchgreifenden Anhaltspunkte vorgelegt worden. Im Anschluss stellte sich die Frage, wer für die Urheberrechtsverletzungen haften würde. Der Vorsitzende erklärte für die anwesenden Medienvertreter, dass zunächst einmal eine tatsächliche Vermutung gegen den Anschlussinhaber sprechen würde, dass auch er die Urheberrechtsverletzung herbeigeführt habe. Diese könne aber widerlegt werden, wenn der WLAN-Anschluss beispielsweise nicht gesichert war, ohne wenn andere Personen Zugriff auf den Computer hatten und dies nachgewiesen wird, wenn dies bestritten wird.

Anmerkung des Autors:
An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie qualifiziert der Vortrag der beklagten Anschlussinhaber sein muss und ob ein Bestreiten ins Blaue hinein, oder ein Bestreiten mit Nichtwissen seitens der Musikindustrie möglich ist. Hierzu sagte das Gericht jedoch nichts, nur dass prinzipiell auch Beweis erhoben werden muss. Interessant wären Ausführungen zu der Frage, wann in derart gelagerten Fällen von einem Ausforschungsbeweis auszugehen ist. Davon gehen Gerichte überwiegend dann aus, wenn die Musikindustrie keinerlei greifbare Anhaltspunkte dafür liefern kann, wer von den genannten Personen als Täter der Rechtsverletzung in Betracht kommt. Sinn kann es nicht sein, durch die Benennung anderer Familienmitglieder lediglich feststellen zu lassen, dass in dem gemeinsamen Haushalt auch der  Internetanschluss gemeinsam genutzt wird. 

In einem Verfahren wurde nicht dargelegt, dass eine andere Person als Täter in Betracht käme. Im Gegenteil wurde lediglich vorgetragen, dass es Familienangehörige nicht gewesen sein konnten. Ein solcher Vortrag genüge nicht, um die tatsächliche Vermutung gegen den Anschlussinhaber zu entkräften. Ähnlich war es auch in dem Verfahren I ZR 19/14, bei dem vorgetragen wurde, kein anderer hätte auf den Rechner zugreifen können, um darauf Filesharing-Software zu installieren. Auch dieser Vortrag sei nicht dazu geeignet gewesen, die tatsächliche Vermutung zu widerlegen.

Eltern haften für ihre Kinder

Auch in dem Fall der 14-jährigen Tochter führte das Gericht aus, dass sich die täterschaftliche Verantwortung der Mutter und damit der Anschlussinhaberin aus der Sorgfaltspflichtverletzung abzuleiten ist. Nach der Beweisaufnahme der Instanzgerichte stand zur Überzeugung dieser Gerichte fest, dass es zu keiner ausreichenden Belehrung gekommen sei. Vielmehr sei nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine konkrete Belehrung zum Filesharing nötig, die auch ein Teilnahmeverbot an den Tauschbörsen enthalten muss. Damit bestätige das Gericht seine bisherige Morpheus-Rechtsprechung. Gegen eine Verwertung des polizeilichen Geständnisses in einem Zivilverfahren würde nichts sprechen.

Zur Höhe des Schadenersatzes für einen Musiktitel führte der Vorsitzende aus, dass 200-, EUR bei einer „überschaubaren Zahl“ von Musiktiteln durchaus angemessen wären. Eine solche überschaubare Zahl würde bei 15 Musiktiteln ohne Weiteres angenommen werden können, jedoch nicht mehr bei 5.000 Stück.

Anmerkung des Autors:
Der Senat betont, dass er einen Schadenersatz in Höhe von 200,- Euro pro Musiktitel für angemessen hält, soweit es insgesamt um eine  „überschaubare Zahl“  von Musiktiteln geht. Der Senat bestätigt, dass dies unproblematisch für 15 Titel gelten würde, jedoch nicht mehr bei mehr als 5.000 Titeln. Im Einzelfall wird es wohl darauf ankommen, ob die Titel in einem inneren sachlichen Zusammenhang zueinander stehen, um von einer „überschaubaren Anzahl“ sprechen zu können. Dies müsste immer dann der Fall sein, wenn sich die Titel unter eine gemeinsame Überschrift subsumieren lassen, wenn etwa alle Titel auf einem Album wie „Bravo Hits, Vol. 89” liegen. Damit dürfte es sich also bei allen auf Doppel-CDS verkauften Complications um eine „überschaubare Anzahl” handeln. Gleiches gilt dann erst recht für Alben, die von nur einem Künstler stammen.

Fraglich ist, ob es sich bei Musiktiteln, die sich in Containern wie „German Top 100 Single Charts” befinden, noch um eine „überschaubare Anzahl“ handelt. Dabei darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass diese Alben nicht im Verkehr zu erwerben sind. Sie werden immer wieder von der Szene zusammengestellt. Sie sind zwar durch die weitere Datumsangaben hinreichend bestimmbar, jedoch stehen die Titel in keinem wirtschaftlich-sachlichen Zusammenhang zueinander, sodass bei solchen Alben keine „unüberschaubare Anzahl“ angenommen werden kann. Selbige Ausführungen dürften für Alben wie „UK Top 40” gelten, die ebenfalls in keinem wirtschaftlich-sachlichen Zusammenhang zueinander stehen. Dieser Gedanke würde jedoch im Widerspruch zu dem Urteil des BGH stehen. In einem der Fälle wurden mehr als 470 Titel zum Download angeboten, jedoch nur 15 Titel zum Gegenstand der Klage gemacht. Um welche Datei es ging, ist nicht bekannt. Die Urteilsbegründung dürfte insoweit interessant sein.

Auch die Ansetzung eines Gegenstandswertes von 100.000 EUR und damit Rechtsanwaltskosten für die Abmahnung in Höhe von knapp 2.100 EUR sei nicht zu beanstanden. Auch sei nicht zu beanstanden, dass der Unterlassungsanspruch nicht gerichtlich geltend gemacht worden ist. Zum Zeitpunkt der Abmahnung hätten keinerlei Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass die Rechteinhaber nicht beabsichtigt hätten, den Unterlassungsanspruch nicht vor Gericht weiterzuverfolgen.

Update 24.11.2015:
Nach Informationen der Rechtsanwaltskanzlei VON RUEDEN ist mit der Veröffentlichung der Urteile im Volltext erst Mitte Dezember 2015 zu rechnen. Bisher sind die Urteilsgründe den Parteien noch nicht zugestellt worden.