Warum ich als Nebenklägervertreter aus Magdeburg über den Prozess berichten muss
Am Dienstag, den 4. November 2025, beginnt vor dem Landgericht Magdeburg der Prozess gegen Taleb Al Abdulmohsen mit dem Aktenzeichen : 21 Ks 4/25
Ich werde zwei Nebenklägerinnen vertreten. Normalerweise halte ich mich an einen Grundsatz: Als Strafverteidiger berichte ich nicht über laufende Verfahren. In diesem Fall mache ich eine Ausnahme. Ich glaube, das hat für meine Mandantschaft den größten Mehrwert.
Die Nebenklage ist die formelle Beteiligung des Geschädigten oder seines Rechtsnachfolgers an der öffentlichen Anklage der Staatsanwaltschaft in einem deutschen Strafverfahren, wodurch dieser eigene prozessuale Rechte erhält.
Dieser Prozess muss Fragen über die Schuld des Einzeltäters hinaus beantworten. Es muss geklärt werden, ob die Bundesrepublik Deutschland, das Land Sachsen-Anhalt und die Stadt Magdeburg alles getan haben, um ihre Bürger zu schützen.
Meine Mandantinnen – schwer verletzte Opfer des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt vom 20. Dezember 2024 – haben als Betroffene und als Steuerzahlerinnen ein Recht auf diese Antworten.
Taleb Al Abdulmohsen Zahlen und Warnzeichen
Über 100 Mal befassten sich deutsche Sicherheitsbehörden mit Taleb Al Abdulmohsen. Sechs Bundesländer – in allen waren Sicherheitsbehörden mit ihm befasst. Mehr als ein Jahr lang warnte der saudische Geheimdienst den BND mehrfach vor diesem Mann und seinen öffentlichen Drohungen in sozialen Netzwerken. Diese Hinweise wurden an das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt weitergeleitet, dort jedoch nicht als konkrete akute Gefahr eingestuft.
2006 kam er als Gastarzt mit Visum nach Deutschland.
2013 die erste Verurteilung – 90 Tagessätze wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten.
2014 folgte eine polizeiliche Gefährderansprache nach Drohungen.
2016 erhielt er Asyl als politischer Flüchtling.
Zwischen 2023 und 2024 liefen diverse Ermittlungsverfahren.
Und dennoch: Am 20. Dezember 2024 raste dieser Mann über den Magdeburger Weihnachtsmarkt (Polizeieinsatz und Fahrstrecke konkret).
Jedes dieser Daten hätte ein Warnsignal sein können. Alle zusammen ergeben ein Muster, das nicht hätte übersehen werden dürfen?
Der Untersuchungsausschuss zum Magdeburger Anschlag
Der Untersuchungsausschuss entsendet bis zu sechs Ausschussmitglieder als Beobachter im Nebenklägerbereich, die an der Hauptverhandlung teilnehmen können – eine ungewöhnliche Verzahnung von justizieller und parlamentarischer Aufarbeitung.
Der 21. Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalt arbeitet seit Februar 2025 an der Aufklärung. Die Protokolle zeigen: Es wird gearbeitet. Zeugen werden vernommen, Akten angefordert, Amtshilfeersuchen gestellt.
Doch die Protokolle zeigen auch etwas anderes: politisches Taktieren. In der dritten Sitzung am 24. März fanden mehrere Beweisanträge der AfD-Fraktion nicht die erforderliche Mehrheit. Am 28. April wurden weitere zurückgestellt. Am 15. Mai das gleiche Bild: Ablehnung entlang von Fraktionsgrenzen, ohne inhaltliche Begründung.
Während Koalitionsanträge durchgewinkt werden, scheitern Oppositionsanträge an Mehrheitsverhältnissen. Die Protokolle vermerken nüchtern: „Es fehlt die erforderliche Mehrheit.“ Mehr nicht. Keine Begründung, warum ein Beweisantrag inhaltlich nicht sinnvoll sein sollte. Nur Abstimmungsergebnisse.
Meine Mandantinnen fragen sich: Geht es um lückenlose Aufklärung – oder um politisches Heimspiel?
Der 21. Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalt hat seit seiner Konstituierung im Februar 2025 bis zur jüngsten Sitzung im Oktober 25 Beweisbeschlüsse gefasst und zahlreiche Zeugen vernommen. Alle Protokolle sind öffentlich einsehbar.
AfD rügt mangelndes Aufklärungsinteresse der Landesregierung
Der innenpolitische Sprecher und Obmann Matthias Büttner erklärte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, die Koalition tue „alles, um die Landesregierung zu schützen“. Eine „echte und ehrliche Aufarbeitung des Versagens landeseigener Behörden“ werde verhindert; statt Verantwortung zu übernehmen, suche man „andere Schuldige“.
Die Schwerpunkte der Aufklärung würden verlagert: Zuerst sei „die Stadt Magdeburg mit ihrem Sicherheitskonzept“ in den Mittelpunkt gerückt, nun eine Phase, „in der der Täter noch gar nicht in Sachsen-Anhalt war“.
Büttner sieht ein „bewusstes Spiel auf Zeit“. Eine vollständige Klärung in dieser Legislaturperiode sei kaum möglich. Der Abschlussbericht des Ausschusses ist spätestens im Sommer kommenden Jahres, kurz vor der Landtagswahl, fällig.
Exkurs – Hat sich nichts geändert?
Die Investigativjournalisten Tarek Khello und Christian Werner stellen sich in der FAKT-Ausgabe im Ersten die Frage: Warum hatte niemand entschieden reagiert, warum konnte das Attentat von Magdeburg nicht verhindert werden?
In den Chatverläufen des Magdeburger Attentäters stießen die Autoren etwa auf Ahmed M., der wie Taleb A. aus Saudi-Arabien stammt und im Interview erklärte, dass er das Attentat als „mutig“ empfinde. Er bedauere, dass nicht mehr Menschen dabei umgekommen seien. Ahmed M. tauchte allerdings wenige Tage nach diesem Interview unter.
Viele Gefährder, Menschen, „die drohen, Waffen zeigen, hassen“ und in sozialen Netzwerken ihre Gewaltfantasien posten, fielen offenbar den Sicherheitsdiensten nicht auf, so das Fazit des Films.
Es zeige sich nach Aktenlage „eine sicherheitspolitische Herausforderung, der die deutschen Sicherheitsbehörden nur bedingt gewachsen sind“.
Die Recherche führte das MDR-Team zu Ahmed A., ebenfalls ein Saudi und enger Vertrauter von Abdulmohsen, der selbst eine Gefahr darstellen soll.
Ahmed A. äußerte Verständnis für die Tat.
Er bedauerte explizit, dass bei dem Anschlag nicht mehr Menschen ums Leben kamen. Wörtlich sagte er in dem Interview: „Ich wünschte, seine Bemühungen würden nicht mit dem Tod weniger Menschen enden.“
Er rechtfertigte Abdulmohsens Tat als angemessene persönliche Racheaktion gegen einen Staat, der ihn jahrelang verfolgt habe.
Ahmed A. kündigte eigene Racheaktionen an, indem er prahlte, er wolle Deutsche mit dem Messer abschlachten, und fragte, warum er deswegen als Terrorist bezeichnet werde. Er sagte, die Kugel sei „schussbereit“.
Wie Immer? Anschlag Tränen Kerzen Untersuchungsausschuss
Nach Breitscheidplatz hieß es „Nie wieder“. Nach Halle „Nie wieder“. Nach Hanau „Nie wieder“. Nach Magdeburg wieder das gleiche Ritual: Kerzen, Tränen, Untersuchungsausschuss, Protokolle. Und weiter wie bisher.
Die nächsten Gefährder sind bereits bekannt, geben Interviews, drohen öffentlich. Sie sind auffindbar, dokumentiert, auf dem Radar. Aber nichts geschieht.
Deshalb muss die Nebenklage mehr sein als juristische Begleitung. Sie muss den Staat selbst mit auf die Anklagebank setzen.
Meine Mandantinnen sind nicht nur Opfer eines Täters, sondern unter Umständen auch Opfer eines Systems, das versagte. Die Verantwortungen müssen umfassend geklärt werden.
Konkret möchte ich für meine Mandantschaft klären:
Die Täterschaft von Taleb Al Abdulmohsen steht außer Frage. Der Täter muss für diese kranke Tat möglichst hart bestraft werden.
Geheimdienste
Der saudische Geheimdienst warnte nicht einmal, nicht zweimal, sondern mehrfach – über ein Jahr vor dem Anschlag – vor dem späteren Täter. Diese Informationen erreichten deutsche Behörden. Was geschah dann mit ihnen? Warum führten sie zu keiner Intervention? Diese Fragen müssen im Prozess geklärt werden (Generalbundesanwalt lehnt Übernahme ab).
100 behördliche Erfassungen
Taleb Al Abdulmohsen war über 100 Mal behördlich erfasst, aktenkundig in sechs Bundesländern. Dennoch wurde er als „keine konkrete akute Gefahr“ eingestuft. Meine Mandantinnen fragen: Was sagen diese Akten? Wer hatte Zugriff auf sie? Warum wurden die Informationen nicht zusammengeführt? (Polizeieinsatz, Pressebericht Tagesschau)
Versagen beim Sicherheitskonzept
Nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 hätte es einen verbindlichen Maßnahmenkatalog mit zertifizierten Zufahrtssperren geben müssen. Warum wurde dieser in Magdeburg offenbar nicht umgesetzt? Wer war konkret verantwortlich für die Freigabe und Umsetzung des Sicherheitskonzepts? Gab es eine offizielle Genehmigung durch die Stadt Magdeburg oder das Land Sachsen-Anhalt? (Gutachten zum Sicherheitskonzept)
Skandalöser Datenschutzverstoß
Besonders empörend: Die Adressen der Opfer wurden dem Täter oder möglichen Komplizen bekannt. Dies stellt aus Sicht meiner Mandanten eine massive Verletzung der Fürsorgepflicht gegenüber den Betroffenen dar. Dieser Punkt darf nicht unter den Tisch fallen oder relativiert werden.
Keine Verantwortungsübernahme
Bis heute fühlt sich niemand persönlich verantwortlich – weder auf kommunaler noch auf Landesebene. Trotz festgestellter erheblicher Versäumnisse wurden keine disziplinarischen oder dienstrechtlichen Konsequenzen gezogen (Spiegel-Bericht Verantwortlichkeiten).
Fragen:
- Wer war konkret verantwortlich?
 - Welche Informationen lagen wem vor?
 - Warum wurde nicht gehandelt?
 - Warum gibt es keinen verbindlichen Maßnahmenkatalog nach Berlin 2016?
 - Welche Handlungsempfehlungen gab das Land Sachsen-Anhalt?
 - Warum wurden diese nicht umgesetzt?
 - Wie konnten Opferadressen bekannt werden?
 - Welche Konsequenzen werden gezogen?
 - Medizinisches Attestierungs- und Begutachtungsverfahren zur Dokumentation gesundheitlicher und psychischer Folgen
 - Prüfung rechtlicher Schritte gegen weitere Verantwortliche (Hier können sich im Laufe des Prozesses weitere Anhaltspunkte ergeben )
 - Welche Lehren wurden tatsächlich gezogen?
 - Gibt es heute verbindlich verbesserte Sicherheitskonzepte?
 - Werden künftig zertifizierte Sperren vorgeschrieben?
 
Diese Fragen können im Rahmen der Schuldfeststellung eine Rolle spielen, paradoxerweise sogar zugunsten des Täters. Man könnte argumentieren: Man hat es ihm leicht gemacht. Das Sicherheitskonzept war mangelhaft. Der Staat hatte versagt, bevor der Täter handelte. Juristisch bewegen wir uns hier im Promillebereich, der auf das Strafmaß keinen Einfluss haben wird. Man arbeitet also, streng genommen, auch der Verteidigung zu.
Aber genau das ist der Punkt: Wenn es verschiedene Verantwortungen gibt, wenn der Rechtsfrieden umfassend hergestellt werden soll, dann müssen in einem solchen Prozess auch solche Fragen gestellt werden. Ich habe nicht vor, die Staatsanwaltschaft einfach machen zu lassen. Ich will sie nicht behindern. Aber meine Mandanten wollen nicht nur eine gerechte Strafe für den Täter. Sie wollen auch, soweit dies in diesem Strafprozess möglich ist, Aufklärung über das Versagen des Systems. Meine Mandantinnen haben darauf ein Recht. Und dieses Recht werde ich durchsetzen.
Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.

Rechtsanwalt Johannes von Rüden
Kontakt
E-Mail: Johannes@rueden.de
Telefon : 01778057016
Prozesstagebuch Landgericht Magdeburg 21 Ks 4/25
Prozesstag 1 am Montag, 10. November 2025
Prozesstag 3 am Mittwoch, 12. November 2025
Prozesstag 4 am Donnerstag, 13. November 2025
Prozesstag 5 am Freitag, 14. November 2025
Prozesstag 6 am Montag, 17. November 2025
Prozesstag 7 am Dienstag, 18. November 2025
Prozesstag 8 am Mittwoch, 19. November 2025
Prozesstag 9 am Donnerstag, 20. November 2025
Prozesstag 10 am Freitag, 21. November 2025
Prozesstag 11 am Montag, 24. November 2025
Prozesstag 12 am Dienstag, 25. November 2025
Prozesstag 13 am Mittwoch, 26. November 2025
Prozesstag 14 am Donnerstag, 27. November 2025
Prozesstag 15 am Freitag, 28. November 2025