§ 64 StGB – Chancen und Risiken seit der Neuregelung in 2023
[VR WISSEN]
Für Straftäter mit Suchterkrankung eröffnet § 64 StGB die Möglichkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anstelle der üblichen Haft. Doch dieser Weg ist kein Selbstläufer mehr: Mit Novellierung der Norm gelten seit dem 01. Oktober 2023 strengere Regeln. Höhere Anforderungen an die Therapieaussicht und der Wegfall früherer Vorteile werfen eine entscheidende Frage auf: Ist die Unterbringung nach § 64 StGB immer noch die bessere Alternative zur Justizvollzugsanstalt, oder sollte sie im Einzelfall vielleicht sogar vermieden werden? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt auch deshalb, weil die bis Oktober 2023 bestehende Möglichkeit einer vorzeitigen Bewährungsentlassung nach der Hälfte der Haftverbüßung (§ 67 Abs. 5 StGB a.F.) mit der Novellierung von § 64 StGB entfällt.
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB
Grundsätzlich kann ein Gericht die Unterbringung eines Täters in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB anordnen, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind. Zum einen muss der Betroffene einen Hang zum übermäßigen Konsum von Alkohol oder anderen Suchtmitteln aufweisen, und die ihm zur Last gelegte Tat muss wesentlich auf diesem Hang beruhen. Zum anderen ist eine negative Prognose erforderlich: Es muss die Gefahr bestehen, dass der Täter infolge seines Hanges auch künftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Weiterhin setzt die Anordnung voraus, dass die Abhängigkeit bereits zu einer schwerwiegenden und noch andauernden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit oder der Leistungsfähigkeit geführt hat. Schließlich muss eine positive Therapieprognose vorliegen: Auf Basis konkreter Anhaltspunkte muss zu erwarten sein, dass die Behandlung in der Entziehungsanstalt den Täter heilt oder ihn zumindest für eine erhebliche Zeit von seiner Sucht und weiteren Straftaten abhält.
Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von § 64 StGB
Hang im Sinne des § 64 StGB
Ein „Hang“ bezeichnet das Leiden an einer Substanzkonsumstörung, die zu einer dauerhaften und schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder Leistungsfähigkeit geführt hat und weiterhin führt. Mit dem Begriff „Substanzkonsumstörung“ knüpft der Gesetzgeber regelmäßig an eine Abhängigkeit an, die einen medizinisch relevanten Schweregrad aufweist und daher behandlungsbedürftig ist. Dies ist auch bei einem Konsum zur Selbstmedikation nicht ausgeschlossen. Ein bloßer Zusammenhang zwischen dem Rauschmittelkonsum und der Lebensführung des Täters reicht jedoch nicht aus, um eine solche Beeinträchtigung zu begründen. Für die Annahme einer Beeinträchtigung sind vielmehr äußere und nachprüfbare Veränderungen in der Lebensführung erforderlich, für die der Substanzkonsum ursächlich ist. Dies kann z. B. beim Verlust des Arbeitsplatzes oder bei der Diagnose von Gesundheitsschäden durch Drogenkonsum der Fall sein.
Die Gefahr, dass der Täter infolge seines Hanges erneut erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, liegt vor, wenn hierfür eine „begründete Wahrscheinlichkeit“ besteht. Dies bedeutet, dass eine Wiederholung konkret zu erwarten sein muss. Mit der Reform des § 64 StGB verlangt der Gesetzgeber zusätzlich, dass die Hangneigung die alleinige oder überwiegende Ursache für die Begehung der Tat sein muss. Werden mehrere Taten begangen, genügt es, wenn ein Teil dieser Taten auf den Hang zurückzuführen ist. Das typische Beispiel wäre in diesem Kontext die Beschaffungskriminalität, die auf der Notwendigkeit beruht, Betäubungsmittel zu erwerben. Fraglich ist der Zusammenhang, wenn die Tat spontan auf eine Provokation folgte oder aber über einen längeren Zeitraum geplant war.
Bei festgestellter Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB kann das Gericht die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung oder Entziehungsanstalt anordnen, insbesondere wenn ein Risiko zu weiteren Straftaten besteht.
Positive Therapieprognose (Behandlungserfolgsprognose)
Eine hinreichende Aussicht auf Behandlungserfolg ist gegeben, wenn hierfür aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht. Hierfür reicht es aus, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass für einen relevanten Zeitraum keine erheblichen rechtswidrigen Taten im Zusammenhang mit der Abhängigkeit mehr zu erwarten sind.
Maßgeblich für die Behandlungserfolgsprognose sind
- Art und Stadium der Abhängigkeit,
- bereits eingetretene körperliche und psychische Veränderungen (ggf. Schäden),
- vorangegangene Therapieversuche und deren Verlauf sowie
- die aktuelle Therapiebereitschaft.
Ein gesichertes Wohn-, Arbeits- und Familienumfeld wirkt sich in diesem Zusammenhang als positiv für die Therapieprognose aus. Negativ – und damit der Wahrscheinlichkeit therapeutischen Erfolgs entgegenstehend – können sich dagegen fehlende Therapiebereitschaft, ein langjährig verfestigter Rauschmittelkonsum, eine Ausreisepflicht oder eine Persönlichkeitsstörung auswirken. Da die Therapie wesentlich auf Kommunikation basiert, gelten ausreichende Sprachkenntnisse des Täters ebenfalls als notwendige Voraussetzung für einen Therapieerfolg und damit die Anwendungsmöglichkeit von § 64 StGB.
Info: Die Novellierung des § 64 StGB und der damit zusammenhängenden Vorschriften § 67 Absatz 2 Satz 3 und Absatz 5 Satz 1 StGB sowie § 463 Absatz 6 Satz 3 StPO sind mit dem 01. Oktober 2023 in Kraft.
Folgen und mögliche Alternativen
Die Unterbringung soll nach § 67d Abs. 1 grundsätzlich bis zu zwei Jahren andauern und erfolgt unter Anrechnung auf die Freiheitsstrafe. Ist die Behandlung in der Entziehungsanstalt erfolgreich abgeschlossen, kann eine Reststrafaussetzung nach § 67 Abs. 5 StGB zu Bewährung erfolgen. Dies ist jedoch erst möglich, wenn zwei Drittel der Haftstrafe verbüßt sind. Zudem müsste die Entlassung unter Berücksichtigung des allgemeinen Sicherheitsinteresses nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB verantwortbar sein. Hierbei fließen vor allem die Persönlichkeit, die Lebensverhältnisse, die Umstände der Tat, das Verhalten im Vollzug sowie das Gewicht des bei einem Rückfall gefährdeten Rechtsguts in die sogenannte Legalprognose ein. Aus Sicht des Täters ist insbesondere zu berücksichtigen, dass ein Abbruch der anspruchsvollen Behandlung, der in über 50 % der Fälle erfolgt, ein ausgesprochen negativer Faktor ist.
Dem gegenüber steht die reguläre vorzeitige Entlassung, die sich ebenfalls an den Kriterien des § 57 Abs. 1 StGB orientiert. Auch hier erfolgt eine Aussetzung des Strafrestes nach zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe, wenn von einer positiven Legalprognose hinsichtlich der künftigen Straffreiheit des Täters auszugehen ist. Durch die Änderungen im Rahmen des § 64 StGB ist daher nunmehr sorgfältig abzuwägen, inwieweit eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im konkreten Einzelfall für den Täter eine erstrebenswerte Option darstellt oder ob es sinnvoller sein kann, eine klassische Reststrafaussetzung anzustreben. Bei weiteren Fragen zum Thema kontaktieren Sie am besten einen spezialisierten Anwalt für Strafrecht.

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