Unangenehme Zeiten für Daimler: Immer mehr Mercedes-Kunden gehen gerichtlich gegen den Auto-Konzern vor. Jetzt droht Daimler auch noch eine Sammelklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dort soll geklärt werden, ob das von Daimler bei der Abgasreinigung verwendete Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung ist. Damit erreicht der Abgasskandal die höchste Justizebene und dürfte dann auch für viele andere Hersteller zum Desaster werden.
Stuttgarter Richter bündelt Schadensersatzklagen
Der im Abgasskandal als besonders akribisch geltende Stuttgarter Richter Fabian Richter Reuschle hat angekündigt, dem EuGH in Luxemburg die wichtigsten Streitpunkte vorzulegen. Dafür will er 21 Schadensersatzklagen von Dieselkunden bündeln und die Fragen, über die bundesweit in Tausenden Zivilverfahren gestritten wird, in höchster Instanz klären lassen.
Im Wesentlichen wird es darum gehen, ob die Grenzwerte für den Stickstoffausstoß nur auf dem Prüfstand eingehalten werden müssen oder auch auf der Straße. Eine weitere Frage lautet: Ist eine temperaturabhängige Steuerung der Abgasreinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung oder nicht?
Richter Reuschle positioniert sich in einer schriftlichen Analyse bereits vorab klar gegen das Unternehmen: Seiner Meinung nach seien die Abgas-Grenzwerte nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch im Straßenbetrieb grundsätzlich einzuhalten.
Nach Ansicht des Stuttgarter Richters müssen sich klagende Kunden auch die bisherige Nutzung ihres Fahrzeugs nicht auf eine Entschädigung anrechnen lassen. Diese Risikoverteilung sei nur für normale Kaufverträge gedacht. In den Diesel-Fällen aber seien manipulierte Fahrzeuge arglistig an gutgläubige Kunden verkauft worden.
Daimler gerät immer stärker unter Druck
Folgt der EuGH dem deutsche Richter, sieht es für Daimler gar nicht gut aus. Auch das Kraftfahrtbundesamts (KBA) ist der Ansicht, dass der Konzern bei einigen Modellen eine unzulässige sogenannte Abschalteinrichtung verbaut hat, um beim Abgasausstoß zu tricksen. In drei Bescheiden des Amts wurde bereits der Rückruf von mehr als einer Million Mercedes-Fahrzeugen angeordnet.
Zwar hat Daimler die KBA-Bescheide angefochten, doch der Großteil der betroffenen Fahrzeuge wurde bereits in die Werkstätten zurückgerufen – etwa drei Millionen Autos werden umgerüstet. Ein Bußgeld der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen Verletzung der Aufsichtspflicht über 870 Millionen Euro hatte Daimler akzeptiert. Ein Schuldeingeständnis?
Bei individuellen Klagen von Autokäufern gerät Daimler jedenfalls zunehmend unter Druck. Insgesamt laufen mehr als 4000 Prozesse, davon rund 2000 in Stuttgart.
Auch andere Hersteller betroffen
Die Fragen, die der EuGh klären soll, sind natürlich konzernübergreifend relevant. Auch alle anderen Hersteller, die vom Dieselskandal betroffen sind, haben von einem EuGH-Prozess nichts Gutes zu erwarten. Laut Klägeranwalt Krause wäre ein Sieg in Luxemburg ein „Durchbruch auch für Dieselkäufer anderer Marken“.
Ähnlich sieht es die Verbraucherzentrale Bundesverband, die den Schritt begrüßt: „Wir halten es für sinnvoll, dass der Richter die Sache dem EuGH vorlegen will, weil es um grundsätzliche Fragen geht, die fast die gesamte Autoindustrie betreffen und insbesondere auch für Ansprüche gegen VW relevant sein können.“
Einblick in Produktionsabläufe gefordert
Bis es soweit ist, müssen sich Kläger weiter vor deutschen Gerichten durchsetzen. Die Chancen dafür steigen, denn eine Strategie des Autokonzerns geht nicht mehr auf: Bislang verweigert Daimler der Justiz nämlich den Einblick in die betroffenen Motoren und die KBA-Bescheide, in denen die Abschalteinrichtung beschrieben wird. Es handele sich um „Geschäftsgeheimnisse“.
Das erschwert Klägern die Beweisführung. Der Besitzer eines Mercedes-Diesels der Abgasnorm Euro 5 hatte vor dem Landgericht Aachen geklagt, scheiterte jedoch mit seiner Schadensersatzklage. Er habe nicht detailreich genug zur Abschalteinrichtung vorgetragen, hieß es in Aachen. Doch das OLG Köln befand, dass der betreffende Kläger genug getan habe: Die sichere Kenntnis von Eigenschaften einer eingebauten Software sei ohne Einblick in die Prozesse und Produktionsabläufe des Herstellers in der Regel nicht möglich.
Thermofenster kann Täuschung bedeuten
Der Fall geht jetzt zurück an das Landgericht Aachen und muss in die Beweisaufnahme eintreten. Sebastian Steffens von der Berliner Kanzlei von Rueden vertritt den Mercedes-Besitzer und beruft sich auf das OLG Köln: „Das Oberlandesgericht hat klargestellt, dass auch die Verwendung des sogenannten Thermofensters eine Täuschung der Behörden und der Kunden bedeuten kann.“ Gelinge es dem Kläger, diese Abschalteinrichtung zu beweisen, folge hieraus sein Anspruch wegen vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigung gegen Daimler.
Richter Reuschle betont, dass Klägern bei der Beweisführung nicht Unmögliches abverlangt werden dürfe. „Ohne Zugang zu den Quellcodes können die potenziell Geschädigten die Motorensteuerung weder auswerten noch weiter zu deren Mechanismus vortragen.“
Daimler will gegen sämtliche negative Entscheidungen der Landgerichte vorgehen. „Gegen alle diese Urteile haben wir Berufung eingelegt oder werden Berufung einlegen“, so ein Sprecher. Es kommt also viel Arbeit auf den Konzern zu: Zwar werden immer noch Klagen abgewiesen, aber es gibt auch Landgerichte, die zugunsten der Daimler-Kunden urteilen, darunter neben Stuttgart auch Tübingen, Karlsruhe, Heilbronn, Frankfurt, Hanau und Mönchengladbach.