Die Aufarbeitung des VW-Abgasskandals zum Motor EA 189 geht 2020 in die entscheidende Runde. Der Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv) und die Volkswagen AG verhandeln im Musterverfahren zu VW, Audi, Seat und Skoda-Fahrzeugen mit EA-189-Motor über einen Vergleich. Juristen rechnen damit, dass VW einem Vergleich zustimmen wird. Andernfalls würde der Autokonzern ein unkalkulierbares finanzielles Risiko eingehen. Gelingt der Vergleich, könnte eine weitere Klageflut verhindert werden.
Der Konzern macht also den Hunderttausenden VW-Kunden möglicherweise bald ein Angebot, das ihren Wertverlust kompensiert. Dafür muss die Vereinbarung aber für die Geschädigten, die sich an der Musterfeststellungsklage beteiligen, attraktiv genug sein.
Oberlandesgerichte machen Klägern Hoffnung
Die Klägervertreter waren bereits 2017 in erster Instanz und anschließend in zweiter Instanz ziemlich erfolgreich. Neben dem OLG Braunschweig haben alle OLG, die mit dem Abgasskandal zu tun haben, zumindest positive Ausblicke gegeben. Immer mehr Gerichte stellen außerdem den Abzug einer Nutzungsentschädigung in Frage und sprechen sich für deliktische Zinsen in Höhe von vier Prozent pro Jahr seit Kaufpreiszahlung aus.
Wie aber geht es weiter, wenn der VW-Konzern keinen Vergleich mit dem vzbv erreicht? Klar ist: Wenn die Einigung nicht gelingt, müsste VW mit einer erneuten Klageflut rechnen und würde ein unabsehbares finanzielles Risiko eingehen. Der Hauptgrund dafür sind laut dem Kölner Rechtsanwalt Prof. Dr. Marco Rogert neue Tendenzen in der Rechtsprechung. Eine davon stellt die Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer in Frage.
Nutzungsentschädigung unzulässig?
Bislang wurde dem Geschädigten der Gebrauchsvorteil als Nutzungsentschädigung vom gezahlten Bruttokaufpreis abgezogen. Doch der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Heese weist diese Praxis zurück: Die Geschädigten dürfen seiner Auffassung nach nicht behandelt werden, als hätten sie das Auto gemietet. Einige Richter bezweifeln zudem die in der Formel angenommene Gesamtlaufleistung von 250.000 Kilometern: VW setze die Leistung zu niedrig an, um höhere Abzüge vom Kaufpreis vornehmen zu können.
Möglicherweise wird den Klägern auch gar keine Nutzungsentschädigung abgezogen. Schließlich verfügt das betroffene Fahrzeug laut BGH über einen erheblichen Mangel, weshalb der Nutzungswert gar nicht in voller Höhe anfallen kann. Auch Billigkeitsgründe sprächen laut Heese sehr stark dafür, dass der mit Vorsatz handelnde Schädiger nicht durch eine solche Praxis bevorteilt werden dürfe.
Rechtsexperten plädieren für Erstattung des vollen Kaufpreises
Heese plädiert dafür, von der bisherigen Rechtspraxis abzurücken und den geschädigten Kunden den vollen Bruttokaufpreis zuzusprechen, um zu einer hinreichenden Kompensation zu kommen. Entsprechend haben auch schon mehrere Landgerichte geurteilt, darunter die Landgerichte Halle Duisburg, Potsdam Hamburg und Augsburg. Zwar wurde diese Ansicht von den Oberlandesgerichten in der Berufungsinstanz zunächst nicht geteilt, doch das HOLG Hamburg und das OLG Brandenburg haben die bisherige Praxis mittlerweile in Frage gestellt.
Nach Heeses Auffassung sollte die Nutzungsentschädigung ganz wegfallen, weil die Käufer durch eine solche Anrechnung unzumutbar belastet und die Hersteller „unbillig begünstigt“ würden.
Auch eine weitere Begründung für den Wegfall der Nutzungsentschädigung überzeugt: In einem im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellten Gutachten von Prof. Dr. Führ heißt es, dass die manipulierten EA 189-Fahrzeuge von VW ungenehmigt und ohne Zulassungsfähigkeit in den Verkehr gelangten. Demnach sei jede Nutzung eines solchen Fahrzeugs illegal und nicht vorschriftsmäßig im Sinne der StVZO. Eine illegale Nutzung könne aber niemals zu einer Entschädigung für diese illegale Nutzung führen. Andernfalls würde die Beklagte noch für jeden Kilometer Fahrt belohnt, den sie selbst durch die Täuschung der Kunden ermöglichte.
Nutzungsentschädigung könnte wegfallen
Es ist also gut möglich, das VW weder vor dem Bundesgerichtshof noch vor dem EuGH eine Nutzungsentschädigung zugesprochen bekommt. Dann würden die Geschädigten – gegen Rückgabe ihrer Fahrzeuge – den vollen Bruttokaufpreis erstattet bekommen. Das wäre ein Desaster für die Volkswagen-AG.
Auch bezüglich der vier Prozent Zinsen auf den Bruttokaufpreis pro Jahr dreht sich der Wind: Während viele Landgerichte Deliktszinsen zunächst abgelehnt hatten, sprach das OLG Köln dem Kläger in einer Entscheidung von 2019 Zinsen zu. Diesem Urteil folgt jetzt auch das OLG Oldenburg.
Verjährungseintritt erst Ende 2022
Eine weitere Schlappe musste VW kürzlich vor dem Landgericht Duisburg einstecken: Das Gericht hat in einem Urteil vom 20. Januar 2020 festgestellt, dass der Verjährungsbeginn weiterhin hinausgeschoben ist, weil ein Verjährungsbeginn eine zutreffende Einschätzung der Rechtslage voraussetzt. Das sei aber noch nicht möglich. Geschädigte könnten demnach noch bis mindestens Ende 2022 klagen. Für VW eine weitere Katastrophe, den der Autobauer war von einer Verjährung spätestens Ende 2019 ausgegangen.
Am 31. Januar 2020 äußerte sich Rechtsanwalt Ehssan Khazaeli von der Kanzlei von Rüden Rechtsanwälte in Berlin zum Thema Verjährung: „Das Oberlandesgericht in Oldenburg hat soweit bekannt als bundesweit erstes geurteilt: Erst 2019 erhobene VW-Abgasskandal-Klagen sind nicht verjährt. Außerdem verbraucherfreundlich: VW muss vier Prozent Zinsen auf den Kaufpreis zahlen – von der Zahlung an. Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, nur der Tenor ist bekannt. Die Revision zum Bundesgerichtshof ist zugelassen.“
VW sieht sich noch immer im Recht
Vieles deutet also darauf hin, dass VW sich auf viel Gegenwind und beträchtliche Kosten einstellen muss. Der Konzern sieht sich allerdings nach wie vor im Recht: Noch im November 2019 hieß es zu den Verhandlungen der Musterfeststellungsklage: „Im Rahmen dieser Diskussion wird es auch darum gehen, ob ein etwaiger Schaden mit Breitenwirkung für alle angemeldeten Verbraucher festgestellt werden kann. Nach unserer Auffassung ist das nicht der Fall. Nach wie vor werden die Fahrzeuge von hunderttausenden Kunden gefahren, weshalb den Kunden aus unserer Sicht kein Schaden entstanden ist. Zudem bestätigen Gutachten, dass kein softwarebedingter Wertverlust eingetreten ist und das Update keine negativen Auswirkungen hat.”
Vergleich nicht zwingend das Ende des Rechtsstreits
Wenn VW demnächst einem Vergleich zustimmt, bedeutet das nicht unbedingt das Ende des Rechtsstreits. Laut Spiegel online gibt es bei der Rückabwicklung offenbar häufig Streit, weil VW den Gegenwert von Kratzern und Beulen von der Zahlung abzieht, wenn es sich um mehr als Bagatellschäden handelt. Gut möglich also, dass geprellte Kunden auch nach Beendigung des Musterverfahrens weiter um ihre Rechte kämpfen müssen.