BGH zur identifizierenden Verdachtsberichterstattung

Veröffentlicht am in Medienrecht

Der Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 16.02.2016, VI ZR 367/15) hat sich erstmals im Rahmen einer Entscheidung umfassend zu den Voraussetzungen einer zulässigen identifizierenden Verdachtsberichterstattung geäußert. Unter dem Begriff der Verdachtsberichtserstattung verstehen Äußerungsrechtler und Medienjuristen Medienberichte über den Verdacht von Straftaten, oder allgemein über Verfehlungen. Da zum Zeitpunkt der Berichterstattung lediglich ein Verdacht besteht und zugunsten des Betroffenen die Unschuldsvermutung gilt, stellt der Bundesgerichtshof hohe Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Verdachtsberichterstattung.

In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte ein Nachrichtenportal in insgesamt sechs Artikeln, wobei einige mit Fotos des Beschuldigten Fußballprofis bebildert waren, über eine Straftat berichtet, die er begangen haben soll. Der Fußballprofi soll anlässlich einer Party in seinem Haus eine junge Frau mit KO-Tropfen betäubt und diese anschließend missbraucht haben. Hierbei würde es sich gem. § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB um den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen handeln. Zumindest soll er hierzu aber Beihilfe geleistet haben. Ihm wurde der sexuelle Missbrauch von wehrlosen Personen vorgeworfen.

Vier der Artikel befassten sich allgemein mit der Einleitung und dem Fortgang (u.a. Beschlagnahme des Handys und Vorliegen eines Gutachtens) des Ermittlungsverfahrens und die beiden letzten mit der Einstellung des Verfahrens. Nachdem die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Tatverdachts eingestellt hatte, ergänzte das Medienorgan die Berichte mit einem entsprechenden Hinweis:

„Anmerkung der Redaktion: Bei dem Artikel handelt es sich um eine Archivberichterstattung vom […]. Das Ermittlungsverfahren gegen T wurde im April 2012 eingestellt.“

Auf anwaltliche Abmahnungen und die Aufforderungen, die beanstandeten Artikel aus dem Online-Archiv zu entfernen, reagierte das Unternehmen nicht. Das Landgericht Köln (LG Köln, Urt. v. 12.05.2014, 28 O 220/14) verurteilte das Medienunternehmen zur Löschung der angegriffenen Berichterstattung, soweit in identifizierender Weise durch Namensnennung oder Bildnisveröffentlichungen über die Tat berichtet wird.

Die dagegen gerichtete Berufung zum Oberlandesgericht Köln (OLG Köln, Urt. v. 12.05.2015, 12.05.2015)  war erfolgreich, wurde jedoch wieder vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Das Oberlandesgericht Köln führte dazu aus, dass eine Abwägung der widerstreitenden Interessen – namentlich der Rechte des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit und Achtung seines Privatlebens mit dem Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit zu einer Duldungspflicht der Archivierung führen würde. Dabei würden schwere der Straftat und die Prominenz des Klägers zu einer Zulässigkeit der Archivierung führen. Die schwere Straftat würde ein entsprechend hohes öffentliches Informationsinteresse begründen.

Es sei zudem zu berücksichtigen, dass die Berichte lediglich über den Verdacht einer Straftat berichten. Von ihnen würde zudem auch keine große Breitenwirkung ausgehen, denn die Artikel seien nur bei einer gezielten Suche zu finden. Mit Blick auf die Pressefreiheit sei es nach Ansicht des Oberlandesgerichts Köln ausreichend gewesen, dass das beklagte Medienunternehmen einen Hinweis an die jeweilige Artikel anbringt.

Diese Argumentation hielt vor dem Bundesgerichtshof nicht stand.

Im weiteren Bereithalten der Artikel sieht der Bundesgerichtshofs einen Eingriff in die persönliche Ehre und damit eine Persönlichkeitsrechtsverletzung des Betroffenen. Es besteht die Gefahr, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichstellen würde und trotz der Einstellung des Verfahrens von dem ursprünglichen Vorwurf „etwas hängenbleibe“.

Verdachtsberichterstattung: Je schwerwiegender der Vorwurf, umso gründlicher müssen die Recherchen sein

Für die Zulässigkeit der Verbreitung noch unklarer Tatsachen, ist maßgeblich, dass diese möglichst genau recherchiert werden. Je schwerwiegender dabei der vorgeworfene Vorwurf ist, umso höhere Anforderungen sind dabei an die Gründlichkeit und Tiefe der Recherche zu stellen. Es dürfen andererseits aber auch keine überhöhten oder gar unmöglichen Anforderungen die Recherchen gestellt werden, die dazu führen würden, dass die Ausübung des Grundrechts beschnitten wird. Bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sind jedoch in besonders hohem Maße sorgfältige Recherchen anzustellen.

Voraussetzungen einer zulässigen identifizierenden Berichterstattung

1. Es muss ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegen, die für den Wahrheitsgehalt der Informationen sprechen.

2. Die Darstellung darf keine Vorverurteilung enthalten, das heißt, sie darf nichts den Eindruck entstehen lassen, der Täter sei der Tat bereits überführt.

3. Regelmäßig ist eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen.

4. Es muss sich zudem um einen Vorwurf von einigem Gewicht handeln, dessen Mitteilung ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit rechtfertigt und nicht allein der Befriedigung der Neugier der Rezipienten dient.

BGH: Presse hat neben einer Pressemitteilung des Staatsanwaltschaft eigenständige Recherchen anzustellen und weitere Beweistatsachen zu recherchieren

Der Bundesgerichtshof kritisiert, dass das Oberlandesgericht Köln lediglich die Einleitung des Ermittlungsverfahrens als Beweistatsache festgestellt hat. Es hat daneben aber keine weiteren Beweistatsachen aufgeführt, die für den Wahrheitsgehalt des Verdachts gesprochen haben. Die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens genügt für die Annahme solcher Beweistatsachen alleine nicht aus, erklärt der Bundesgerichtshof. Den angegriffenen Artikeln war nicht einmal zu entnehmen, dass sie auf Meldungen der Staatsanwaltschaft beruhten.

Dass allein die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für eine identifizierende Berichterstattung nicht ausreichend ist, liegt darin, dass die Staatsanwaltschaft bereits bei Vorliegen eines Anfangsverdachts Ermittlungen einzuleiten hat (vgl. § 152 Abs. 2 StPO, 160 Abs. 1 StPO). Danach genügt es bereits, wenn nach kriminalistischer Erfahrung zureichende tatsächliche Anhaltspunkte die bloße Möglichkeit eine verfolgbare Straftat für möglich erscheinen lassen. Es genügen bereits entfernte Verdächtigungen, die eine geringe, wenngleich nicht nur theoretische Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer verfolgbaren Straftat begründen. Die Staatsanwaltschaft hat immerhin auch völlig unbegründete Anzeigen zu verfolgen. Damit liegt die Schwelle für die Bejahung eines Anfangsverdachts relativ gering, erklärt der Bundesgerichtshof.

Zwar haben Behörden im Rahmen ihrer Informationspolitik eigenständig zu prüfen, ob die Interessen des Betroffenen oder die der Allgemeinheit höher einzuschätzen sind und ob es gerechtfertigt ist, einen Beschuldigten namentlich zu nennen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass ihren Verlautbarungen ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden darf. Grund hierfür ist wiederum, dass Behörden wie die Staatsanwaltschaft als öffentlich-rechtliche Einrichtungen unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Andererseits kann der Betroffene auch im Fall einer unzulässigen Namensnennung durch eine Behörde entsprechende Schadenersatzansprüche gegen die zuständige Gebietskörperschaft geltend machen, die Trägerin  der Behörde ist.

Medien haben eigenständig zu prüfen, ob Namensnennung im Zusammenhang mit Straftaten zulässig ist

Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass Staatsanwaltschaften im Rahmen ihrer Informationspolitik den Namen des Betroffenen nur dann mitteilen würde, wenn sich der entsprechende Tatverdacht erhärtet hat. Dies entbindet die Medien jedoch nicht von einer eigenständigen Prüfung im Einzelfall, ob die entsprechenden Voraussetzungen für eine zulässige Verdachtsberichterstattung vorlagen und eine Namensnennung rechtfertigen.

BGH: Nach Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO sind Berichte aus dem Archiv zu anonymisieren

Auch ein entsprechender Hinweis nach Einstellung des Verfahrens an die Ursprungsmitteilung würde nach dem Bundesgerichtshof nicht ausreichen, um die Rechtsverletzung zu beenden. Dazu führt der Bundesgerichtshof aus, dass durch den Hinweis der Verdacht einer Straftat nicht ausgeräumt ist, denn bei dem Leser kann weiterhin der Eindruck entstehen, dass trotz der Verfahrenseinstellung der Betroffene „in Wahrheit“ der Täter ist und das Strafverfahren etwa nur mangels Beweisbarkeit eingestellt wurde.

Gerade eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO führt nach Ansicht des Bundesgerichtshofs zu einer Unzulässigkeit des weiteren Bereithaltens, denn gerade die Einstellung indiziert, dass keine ausreichenden Beweistatsachen vorlagen. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO dient auch der Rehabilitation des Betroffenen. Dieser Zweck würde jedoch konterkariert werden, wenn ein entsprechender Artikel jedoch weiterhin online bereitgehalten werden dürfte. Eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO indiziert ein noch geringeres Maß an einem anerkennenswerten Interesse der Öffentlichkeit am weiteren Bereithalten der Ursprungsmitteilung.

Auch hinsichtlich der Bildberichterstattung vertritt der Bundesgerichtshof die Ansicht, dass diese wohl zum Zeitpunkt der Berichterstatttung unzulässig waren. Maßgeblich für die Zulässigkeit der Veröffentlichung von Fotos ist das Interesse der Öffentlichkeit an vollständiger Information über das Zeitgeschehen, wobei der Begriff des Zeitgeschehens alle Fragen von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse umfasst. Eine Einschränkung erfährt dies nur durch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit. Dabei sind insbesondere Anlass und Gegenstand der Berichterstattung unter Rücksicht auf die Textberichterstattung zu berücksichtigen. Maßgeblich ist, dass das Medium eine ernsthafte und sachbezogene Erörterung in der Sache anstrebt und damit den Informationsanspruch des Publikums erfüllen will und nicht allein die Neugier der Leser ohne Bezug zu einem zeitgeschichtlichen Ereignis befriedigen will.

Bilder, die den Betroffenen in seiner Funktion als Fußballspieler zeigen, bringen ihn unmittelbar mit der ihm vorgeworfenen Straftat in Verbindung. Die Zulässigkeit dieser Bilder richtet sich nach den Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung vorlagen und den Tatverdacht stützten. Allein die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens reicht aber wie bei der identifizierenden Wortberichterstattung dafür nicht aus. Es können davon auszugehen sein, dass die Bilder zu löschen sind, wenn bereits die Wortberichterstattung unzulässig war.

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